Freitag, 3. November 2017

Weck die tote Christenheit - oder: wie man Aufmerksamkeit erregt.


Reformationstag im Hamburger Michel. Völlig unerwartet kamen morgens um zehn nicht die üblichen 150-250 Gottesdienstbesucher, sondern nahezu 1500 zusammen. Es ist seltsam, dass wir dadurch zunächst befremdet waren. Natürlich hatten wir zu wenig Gottesdienstprogramme. Schnell wurden wenige Hundert nachgedruckt und für die anderen dann doch Gesangbücher verteilt.
Die Reformation erlebbar machen war unser Ziel. Pfarramt, Lektoren, Kirchengemeinderat und die Kantorei zogen lateinisch singend zum ersten Satz der Kantate “Ein feste Burg” von Stephan Langenberg ein. Es folgte ein lateinischer Introitus zum Psalm 46 - solange, bis der stellvertretende Vorsitzende des Kirchengemeinderates uns mit den Worten “Haltet ein, singt nicht Latein, singt Deutsch!” unterbrach. Auch bat er um das Austeilen der Gottesdienstordnungen: “Wir wollen wissen, was geschieht und wollen mitsingen!”. Vorher waren die Gottesdienstbesucher zum reinen Zuhören verdammt und hatten keinerlei Information. Die Kantate läuft weiter, die Ordnungen und die Gesangbücher werden verteilt. Lesungen, auch vom katholischen Pater der Nachbargemeinde, drei kurze Predigten unserer Pastorin und ihren männlichen Kollegen, Gemeindelieder von Luther bis hin zu EG 360 “Die ganze Welt”, aber auch die katholische Hymne “Ein Haus voll Glorie schauet” prägten den lebendigen Gottesdienst. Und dann hatte ich eine spontane Idee. Schon immer faszinierte mich die zweite Strophe von “Sonne der Gerechtigkeit”: “Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit”. Neben mir saß das für die Kantate von Stephan Langenberg erforderliche Schlagzeugduo, mit denen ich einen einzigen Schlag auf der ersten Silbe jener zweiten Strophe auf großer Trommel und Becken vereinbarte. Meine Kantorei bat ich, zeitgleich aufzustehen, an der Orgel programmierte ich ein respektables Plenum. Dieser  gelungene Weckvorgang - es ging ein sichtbarer Ruck durch die Gemeinde - ein zugegebenermaßen überdeutlicher Akzent zum Wortaffekt, wurde zum Tagesthema. Noch nie sind wir öfter nach einem Gottesdienst auf musikalische Details mehr angesprochen worden als dieses Mal. Nun heißt es nur: Wach bleiben! Reformation weiter denken und unser Gemeindeleben lebendig halten.